
Diagnose
ADS oder ADHS!
Es handelt sich um ADHS!
Eine Krankheit diagnostiziert zu bekommen, ist an sich nichts Erfreuliches, vor allem wenn es sich eben nicht um etwas handelt, was man mit zehn Einheiten Krankengymnastik, einem Pikser in den Arm oder einem Löffel „Meduzin“, wie Pipi Langstrumpf es nennt, wieder loswerden könnte. Und Pipi Langstrumpf darf man hier gerne zitieren, immerhin ist sie ein Mädchen mit augenscheinlichem Verdacht auf ADHS-Syndrom wie sie (im wahrsten Sinne) im Buche steht.
Ist sie nun also da, die Diagnose ADHS oder ADS, folgen Antworten auf so viele bisher ungeklärte Fragen wie „Warum tue ich mich mit vielem so viel schwerer als andere?“ oder „Warum kann ich die Dinge nicht besser anpacken?“ Kennt man die Ursachen seiner Problematik, kann man den Symptomen gezielt entgegenwirken. Je mehr man über diese Krankheit erfährt, desto mehr erfährt man über sich selbst, über seine Hürden und Chancen, seine Schwächen und Stärken.

Die Ursachen
Lange attestierte eine ADHS-Diagnose schlichtweg ein Versagen in der Erziehung und/oder Vernachlässigung und/oder frühkindliche Traumata. Heute weiß man es besser. Wenn auch, ähnlich wie das Krankheitsbild selbst, die Ursachen noch nicht restlos erforscht sind. Jedoch liegen empirisch gesicherte Erkenntnisse vor, dass genetische Ursachen den Hauptanteil bei der Entstehung von ADHS tragen. Somit ist auch die Weitervererbung an Folgegenerationen mehr als wahrscheinlich. Familien- und Zwillingsstudien ordnen das Erblichkeitsrisiko zwischen 70 und 80 Prozent ein. Eine prozentuale Zunahme von Diagnosen in unserer Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten allerdings nicht zu verzeichnen. Wissenschaftler gehen von mindestens 14 Genen aus, die für die Ausbildung dieser Störung relevant sind. Aufgrund eines genetischen Tests lässt sich die Diagnose ADHS aber leider nicht stellen. Noch nicht.

Umwelt- und psychosoziale Einflüsse
Heute wird vor allem das Zusammenspiel von Veranlagung sowie Umwelt- und psychosozialen Einflüssen erforscht. Wissenschaftler haben bereits viele Faktoren ermittelt, die eine ADHS-Symptomatik auslösen oder verstärken können: beispielsweise familiäre Instabilität, beengte Wohnverhältnisse, Inkonsequenz und fehlende Struktur in der Erziehung, Rauchen in der Schwangerschaft, Alkoholkonsum in der Familie und Alaska-Seelachs …

Ja, richtig gelesen. Und nein, das war kein Test, ob sich die Aufmerksamkeit des Lesers schon von diesem Text entfernt hat. Alaska-Seelachs nämlich, den es übrigens eigentlich gar nicht gibt, ist ein pazifischer Weißfisch, dessen Fleisch sich besser verkauft, wenn er industriell gefärbt wird. Diese sogenannten Azofarbstoffe stehen im Verdacht, vor allem bei Kindern ADHS auszulösen. Man findet sie auch in farbigen Süßigkeiten und vielen anderen Lebensmitteln – mittlerweile erkennbar am Warnhinweis „kann sich nachteilig auf die Aktivität und Konzentration von Kindern auswirken“.

Kinder mit Diagnose ADHS
Der Lebensstil der modernen Gesellschaft trägt einiges dazu bei, dass Kinder mit ADHS-Veranlagung ihre Verhaltensauffälligkeiten kaum kompensieren können: Zum Beispiel bietet ein „offenes Kindergartenkonzept“ wenig Struktur und Ankerpunkte. Viele Kinder werden zur Schule gefahren, statt zu Fuß zu laufen. Es wird drinnen gespielt, statt an der frischen Luft. Es wird ferngesehen, statt zu klettern und zu buddeln. Zu Hause, im Kindergarten und in der Schule herrscht weniger Autorität. Und was für die freie Entfaltung des einen von Vorteil sein mag, ist für den anderen von Nachteil – wenn er nämlich an ADHS leidet. Potenzieren sich die Verhaltensauffälligkeiten gegenseitig, und wird die Situation für das Kind und dessen Umfeld belastend bis bedrohlich, ist die Konsultation eines Arztes unausweichlich. Eine Diagnose kann den Wendepunkt bedeuten, da sich aus ihr ein anderes Verständnis, die Bereitschaft für ein Umdenken sowie heilsame Maßnahmen für das Kind und sein soziales Umfeld entwickeln lassen.


Jugendliche mit Diagnose ADHS
Jugendliche, die mit der Diagnose ADHS bereits seit früher Kindheit leben, haben mit der richtigen Unterstützung in der Regel längst die Rahmenbedingungen für die verschiedenen Lebensbereiche an ihre individuellen Anforderungen angepasst – mithilfe von Hintergrundwissen bezüglich ihrer Diagnose, mithilfe fester Strukturen und professioneller Betreuung bis hin zu einer verantwortungsvollen Arznei.
Hat sich die Diagnose von ADHS bis ins Jugendalter hinausgezögert, haben betroffene Jugendliche bereits schwere Lasten zu schultern, die mitunter zu kaum reparablen Schäden geführt haben. Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain hat einmal gesagt: „Das, was jemand von sich selbst denkt, bestimmt sein Schicksal.“ Ist eine ADHS-Erkrankung in den ersten Lebensjahren nicht erkannt worden, hat ein junger Mensch oftmals viele schmerzhafte Erfahrungen mit Ausgrenzung, Ablehnung und Missverstanden sein, mit schlechten Schulnoten, Konflikten mit Eltern und erheblichen Selbstzweifeln gesammelt. Hier Aufbauarbeit zu leisten, ist so notwendig wie herausfordernd. Offenheit und Aufklärung sind ebenso wichtig wie die individuelle Betreuung durch Fachkräfte und eine sensitive Therapie. Aber auch manch kleiner Neustart wie der Wechsel in ein neues, „nicht vorbelastetes“ schulisches oder berufliches Umfeld kann im Einzelfall Abstand zu Negativerfahrungen herstellen.


Erwachsene mit ADHS
Lange Zeit war nicht bekannt, dass auch Erwachsene noch mit ADHS-bedingten Symptomen zu kämpfen haben können, wobei die Hyperaktivitätsstörung in weniger Fällen noch zutage tritt. Wie im fortgeschrittenen Jugendalter sind es hier vorrangig jene „Altlasten“, also in Kindheit und Jugend gesammelte Negativerfahrungen, die in Kombination mit dem Aufmerksamkeitsdefizit den Alltag bis in alle Lebensbereiche hinein erschweren. Ist man in den kleinen Vorhaben nicht geduldig, wird man auch die großen zum Scheitern bringen: Dieses Prinzip lässt sich auf das ADHS-typische „Verzetteln“ im Erwachsenenalter ebenso anwenden wie auf die therapeutische Eindämmung der Symptome. Nicht jedem Erwachsenen mit ADHS-Diagnose gelingt es, ein Gespür dafür zu entwickeln, ob laufende therapeutische und ggf. medikamentöse Behandlungen mit zunehmendem Alter einer Optimierung bedürfen. Die Betreuung durch einen erfahrenen Experten – und eine gemeinsame Vertrauensbasis – sowie ein mit der Thematik vertrautes soziales Umfeld sind hier von herausragender Bedeutung. Die Anerkennung von ADHS im Allgemeinen und von erwachsenen Betroffenen im Besonderen nimmt glücklicherweise zu. Selbst wenn die in den Achtzigerjahren verbreitete Falschinformation, ADHS sei eine von der Pharmaindustrie erfundene Krankheit, noch heute in vereinzelten Kreisen kursieren mag.

